Philosophische Geschichten und Bilder



Die liegende Leiter
oder: Warum es im Leben nicht immer nur bergauf geht.
Eine uralte Geschichte
Wenn wir an Entwicklung denken, haben wir oft das Bild von Stufen oder das Bild einer Leiter im Kopf. Schritt für Schritt geht es aufwärts, eine Sprosse nach der anderen will genommen werden. Seit Aristoteles glauben wir an dieses Märchen, das vermutlich einer noch viel älteren Sehnsucht entspringt. Heute macht sich nicht nur Hollywood dieses menschliche Urbedürfnis erfolgreich zu Nutze.
Im Fernsehen werden wir täglich mit Handlungssträngen dieser Art gefüttert: Der Held fällt in eine Krise, und innerhalb von neunzig Minuten erklimmt er virtuos die Leiter der Entwicklung. Das Happy End folgt als sichere Belohnung. 
Von „ganz schlecht“ bis „ganz gut“ an einem Fernsehabend - wäre es nicht schön, wenn die Realität auch so einfach wäre? Was stimmt also nicht mit uns, wenn wir wieder und wieder scheitern? Wenn es uns „schon wieder“ schlecht geht, wo wir doch gerade gestern noch so gut drauf waren?
Besser und schlechter
Auch ich hatte unter meiner eigenen Erwartungshaltung zu leiden, als ich in der tiefsten Krise meines Lebens steckte. Ich wollte so gern daran glauben, dass es mir täglich besser gehen würde, doch über weite Strecken schien es eher, als würde ich Sprosse für Sprosse abwärts klettern. Oder, besser gesagt, einfach abstürzen.
Andererseits ging es mir manchmal richtig gut, inmitten äußerer Tiefschläge. Plötzlich. Unerwartet. Manchmal kam mir sogar ein Lachen aus. „Darf das sein?“, fragte ich mich, und oft verwehrte ich selbst mir diese Erlaubnis. „Es ist doch alles schrecklich. Dass es mir gut geht, muss gewiss ein Irrtum sein.“

Ein kleiner Dreh
Wohin also mit der Leiter, die außer an gemütlichen Fernsehabenden nichts als Stress erzeugt?
Ich habe die meine eines Tages ins Gras gelegt. Und damit ergab sich plötzlich eine ganz neue Perspektive:


In diesem Bild sind es nicht mehr die Sprossen, auf denen wir unseren Lebensweg beschreiten. Die eigentliche Lebenslinie verläuft 
entlang der Holme, oben und unten zugleich. Der Weg ist der selbe, nur manchmal wandern wir auf dem unteren Holm und meinen, es geht uns schlecht. Wenn wir uns gerade auf dem oberen Holm wiederfinden, sieht die selbe Situation plötzlich rosig aus. Wir sind von Freude erfüllt. Beide Wahrnehmungen sind in jedem Moment unseres Lebens verfügbar, wir müssen nur lernen, die Sprossen zu erkennen, auf denen es aufwärts (oder abwärts) geht.
Der direkte Weg
Die Erfahrung zeigt, dass der Weg von einem Holm zum anderen meist nur Sekunden braucht, sobald man ihn gefunden hat.

Die Sprossen, die nach unten führen, können wir „
Trigger“ nennen. Unser Partner sagt etwas, das uns verletzt. Ein Freund enttäuscht uns. Ein auftauchendes Problem konfrontiert uns mit etwas, wovor wir Angst haben. Schon sind wir „ganz unten“. Am unteren Holm. Dort, wo das Leben, das gerade noch gut zu uns war, plötzlich weh tut. 
Ebenso plötzlich kann der Weg nach oben führen. Ein Spaziergang. Ein Tanz. Ein weise gesprochener Satz, der uns eine neue Perspektive zeigt. Eine Stunde beim Therapeuten. Der Geruch guten Essens, und das Leben ist wieder schön.
Ich meine damit nicht, dass alle Probleme sich innerhalb von Sekunden lösen lassen. Doch der Blick, mit dem wir sie betrachten und das Gefühl, das wir dabei haben, kann sich ändern, in jedem Moment.

Unser persönlicher Sprossentanz
Es gibt Menschen, die sind begabt darin, auf dem oberen Holm dahinzutanzen. Andere wandern meist unten im nassen Gras.
Manche nehmen jede Sprosse, die sich ihnen bietet, sie fliegen nach oben und stürzen nach unten, hin und her, rauf und runter. (So anstrengend diese wandelbaren Zeitgenossen auch manchmal sind - sie können viele wertvolle Hinweise über die Natur der Sprossen geben!)
Und das Schicksal?
Ich glaube daran, dass auch ein sogenannter Schicksalsschlag nur eine von vielen Sprossen darstellt. Zugegeben, sie ist besonders rutschig und man kann sie kaum vermeiden. Sie führt uns für gewisse Zeit auf die untere Ebene, ob wir wollen oder nicht. 
Doch die Grundkonstruktion der Lebensleiter bleibt bestehen. Wir dürfen uns darauf verlassen, dass niemand den oberen Holm abmontiert, während wir gerade unten wandern. Irgendwann finden wir die nächste Sprosse nach oben. Auch wenn das manchmal kaum vorstellbar ist.
Wenn ein geliebter Partner stirbt, dann gehen mit ihm auch viele vertraute Leitersprossen nach oben verloren. Die Leiter sieht plötzlich wie ein armseliges Gerippe aus, denn die Sprosse des Guten-Morgen-Kusses wurde ebenso abmontiert wie die Sprossen gemeinsamer Spaziergänge und geliebter Gewohnheiten. Oft erkennen wir erst beim Tod eines Menschen, wie viele Sprossen mit ihm verbunden waren und nun fehlen.
Übrig bleiben die Sprossen unserer Ängste, die allesamt nach unten führen. Existenzangst. Angst vor Einsamkeit. Angst vor Sprachlosigkeit. Jene Ängste, die immer schon in uns gewohnt haben und die wir nach Möglichkeit verdrängen, so lange es geht.
Sie kommen plötzlich ans Tageslicht, wenn das Schicksal uns etwas „antut“ (ein altes Wort für „anzieht“, z.B. die Kleider der Trauer oder die Kleider der Arbeitslosigkeit. Wir schlüpfen in diese Kleider und übernehmen für eine Zeit die Rolle, die damit verbunden ist. Und wir dürfen dabei vieles lernen. Jede Rolle ist eine Ehre, jede ist notwendig auf der Bühne des Lebens).
Umso wichtiger ist es, sich auf die Suche nach neuen Sprossen zu machen, und es scheint so, als seien wir gerade in Existenziellen Situationen besonders begabt, auch die dünnsten, unscheinbarsten von ihnen zu entdecken. Viele Menschen, die vom Schicksal gebeutelt sind, sprechen plötzlich vom Wert der kleinen Dinge und von der großen Dankbarkeit, die sie für ehemals Selbstverständliches empfinden. 
Die Dankbarkeit ist eine der allerwichtigsten Sprossen nach oben!
Ein erfülltes Leben
Wir dürfen dankbar sein über alle Abschnitte unserer Lebensleiter. Je mehr Sprossen wir kennen lernen, umso freier werden wir in der Wahl des Holms, um so virtuoser wird unser Tanz.
Wir suchen und finden, nicht weil es irgendjemand von uns verlangt, sondern weil unsere Neugier danach drängt. Und weil jede einezlne Sprosse Freude verheißt. Ja, auch die, die nach unten führt -  nämlich dann, wenn wir beginnen, sie zu erkennen und zu benennen. Damit nehmen wir ihr ihre Macht, so erzählt es schon das Märchen vom Rumpelstilzchen.
Dies ist der größte Wert von Therapie: Sie lehrt uns, unsere Leiter zu erkunden, mit all unseren persönlichen Abwärts- und Aufwärtssprossen.
Wenn es uns eines Tages gelingt, jede Sprosse mit Dankbarkeit anzunehmen, egal, auf welchen Holm sie uns gerade führt, dann können wir unsere Leiter schultern und auf Bäume klettern, auf Dächer und sogar in den Himmel. Dann kann uns nichts mehr passieren.